Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten
Noch vor ein paar Jahren war „KI schreibt Code“ vor allem Autocomplete und Spielerei. Ende 2025 ist es ein fester Teil vieler Entwicklungsprozesse: KI hilft beim Generieren von Boilerplate, beim Refactoring, beim Schreiben von Tests, beim Debugging – und zunehmend auch als „Agent“, der Aufgaben im Repo abarbeitet und Pull Requests vorbereitet. OpenAI positioniert Codex ausdrücklich als Software-Engineering-Agent, der parallel an Aufgaben arbeiten und PRs vorschlagen kann. (OpenAI)
Das verändert nicht nur, wie Code entsteht, sondern auch, wer wofür verantwortlich ist.
Hier und jetzt: Was KI im Alltag realistisch kann (und was nicht)
Was heute gut funktioniert
- Routinearbeit: CRUD, Formatierungen, kleinere Refactorings, Adapter/Mapper, API-Clients
- „Erste Versionen“: Prototypen, UI-Skelette, Script-Automationen, Migrationsentwürfe
- Dokumentation & Tests: Testgerüste, Mocking, Beispieldaten, Erklärtexte (mit Nacharbeit)
Was oft überraschend schlecht funktioniert
- Randfälle, Nebenläufigkeit, Security-by-default
- Komplexe Domänenlogik („Was bedeutet korrekt?“ ist selten im Code kommentiert)
- Große, gewachsene Codebasen ohne klare Architektur, ohne gute Tests, ohne saubere Schnittstellen
Ein wichtiger Realitätscheck: Nutzung steigt, aber die Begeisterung ist nicht grenzenlos. In der Stack-Overflow-Umfrage 2024 gaben viele an, KI-Tools zu nutzen oder nutzen zu wollen; 2025 wird gleichzeitig von sinkender positiver Stimmung berichtet. Das passt zum Alltag: KI ist hilfreich, aber nicht magisch. (survey.stackoverflow.co)
Verliert man die Kontrolle, wenn KI „programmiert“?
Man verliert Kontrolle nicht automatisch durch KI – sondern durch fehlende Disziplin. Die typische Kontrollfalle sieht so aus:
- KI erzeugt schnell „plausiblen“ Code
- Team übernimmt ihn, weil er grün baut oder „so ähnlich“ passt
- Später treten Produktionsfehler, Sicherheitslücken oder Wartungshölle auf
- Niemand fühlt sich zuständig, weil „die KI hat’s ja gemacht“
Die Gegenbewegung ist klar: Verantwortung bleibt menschlich, egal wer tippt. Und diese Verantwortung wird in Europa eher strenger. Die EU baut parallel mehrere Leitplanken aus:
- Pflichten für Anbieter von General-Purpose-AI-Modellen gelten seit August 2025; Durchsetzung/Enforcement schärft sich über die Folgejahre. (Digitale Strategie Europa)
- Die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie ist bereits in Kraft (seit Dezember 2024) und zielt ausdrücklich auf das digitale Zeitalter; nationale Umsetzung und Anwendbarkeit folgen in den nächsten Jahren. (Binnenmarkt & Industrie)
- Der Cyber Resilience Act setzt Sicherheitsanforderungen über den Produktlebenszyklus hinweg und erhöht den Druck auf Secure-Development und Patch-Fähigkeit. (Digitale Strategie Europa)
Praktische Konsequenz: „KI hat’s geschrieben“ wird als Ausrede immer weniger funktionieren – technisch und regulatorisch.
Verliert man das Handwerk des Programmierens?
Teilweise: Ja, wenn man sich komplett in den Autopiloten begibt.
Aber in der Praxis verschiebt sich das Handwerk:
Weniger Handarbeit
- Boilerplate tippen
- Standardfunktionen aus dem Gedächtnis heruntercodieren
- Dokumentation „von null“ schreiben
Mehr echtes Engineering
- Anforderungen präzisieren (was ist wirklich gemeint?)
- Architekturentscheidungen treffen (Grenzen, Datenflüsse, Abhängigkeiten)
- Qualität absichern (Tests, Observability, Security Reviews)
- Debugging unter Realbedingungen (Logs, Race Conditions, Performance, Betrieb)
Die Teams, die KI am besten nutzen, sind oft nicht die, die am wenigsten können – sondern die, die am klarsten denken, gut testen und sauber schneiden.
Wer macht Weiterentwicklung und Innovation?
Sehr wahrscheinlich: Menschen – mit KI als Beschleuniger.
Warum? Innovation besteht selten aus „mehr Code“. Sie besteht aus:
- richtigen Produktentscheidungen (Nutzen, UX, Timing)
- Trade-offs (Sicherheit vs. Geschwindigkeit, Kosten vs. Wartbarkeit)
- Domänenverständnis (Fachlogik, Prozesse, Risiken)
- Betrieb & Verantwortung (Haftung, Compliance, Incident Response)
KI kann Varianten vorschlagen, Prototypen bauen und Alternativen auflisten. Aber welche Alternative in der Realität tragfähig ist, bleibt eine menschliche Entscheidung – inklusive Verantwortung.
Was als Nächstes kommt: Agenten, Toolchains, mehr Automation
2025 sieht man deutlich den Trend weg vom „Chatfenster“ hin zu Agenten, die in Repos arbeiten, Aufgaben parallel abarbeiten und PRs vorbereiten. OpenAI beschreibt Codex genau so. (OpenAI)
Auch bei Google sieht man die Verschiebung: In den Release Notes wird beschrieben, dass frühere „Tools“ deprecate sind und Richtung Agent-Mode/Integrationen (z. B. über MCP) gegangen wird. (Google for Developers)
Realistisch heißt das:
- Mehr Code entsteht „nebenbei“ (z. B. Tests, Doku, Migrationen)
- Review-Last steigt: weniger Tippfehler, mehr semantische Fehler
- Der Engpass wandert von „Code schreiben“ zu „Code verantworten“
Ein realistisches Zielbild für Teams (ohne Hype)
Wenn du heute 2025/2026 Kontrolle behalten willst, funktionieren diese Prinzipien gut:
1) KI-Code ist immer „untrusted input“
Behandle KI-Ausgaben wie Code von einem neuen, sehr schnellen Junior: nützlich, aber prüfpflichtig.
2) Qualität wird zur Währung
- Tests als Standard, nicht als Luxus
- CI-Checks, Linting, SAST/Dependency Scans
- „Definition of Done“: Kein Merge ohne messbare Absicherung
3) Architektur zuerst, Generierung danach
KI ist stark, wenn Grenzen klar sind: Module, Contracts, Datenmodelle, Error-Strategien.
4) Eigentümerschaft bleibt klar
Für jedes Subsystem muss es eine menschliche Ownership geben. Sonst wird Wartung zur Lotterie.
5) Dokumentation als Nebenprodukt – aber verifiziert
KI kann Dokumentation schreiben. Aber Wahrheit entsteht durch Tests, Observability und Code-Lesbarkeit, nicht durch schöne Texte.
Für Entwicklerinnen und Entwickler: Wie man das Handwerk nicht verliert
Ein pragmatischer Ansatz, der wirklich funktioniert:
- Regelmäßig Dinge ohne KI lösen (Debugging, kleine Tools, Datenstrukturen)
- KI als Pair nutzen: „Schreibe Tests“, „zeige Randfälle“, „erkläre das Risiko“
- Fokus verschieben: Systemdesign, Security, Testing, Betrieb – dort wird der Wert steigen
Fazit
Ja: Wenn KI „das Programmieren übernimmt“, kann man Kontrolle und Handwerk verlieren – wenn man Verantwortung auslagert und Disziplin abbaut.
Realistischer ist aber: Programmieren wird weniger Tipparbeit und mehr Engineering. Innovation und Weiterentwicklung verschwinden nicht, sie verlagern sich zu den Menschen, die Ziele setzen, Risiken tragen und Systeme zuverlässig betreiben.
Und genau da liegt auch die gute Nachricht: In einer KI-Welt wird nicht „der Code“ knapp – sondern Urteilsvermögen, Architektur, Qualitätssicherung und Verantwortungsbereitschaft.

Sei der Erste, der das kommentiert
Kommentare sind geschlossen, allerdings sind Trackbacks und Pingbacks möglich.